Oberammergau, ein Dorf lebt seine Leidenschaft

Idyllisch gelegen, in der Nähe der Schlösser Ludwigs II. von Bayern, bleibt das bayerische Dorf seinem vor über 400 Jahren abgelegten Eid treu: aus Dankbarkeit für die Verschonung von der Pestepidemie die Passion Christi zu präsentieren. Bis Anfang Oktober begeistern rund 2.500 Dorfbewohner, fast die Hälfte der Gemeinde, rund 500.000 Zuschauer aus aller Welt.

Neueste Ausgabe : 26 August 2022

Oberammergau ist ein idyllisches Dorf wie aus dem Bilderbuch. Fresken schmücken viele Fassaden und erzählen Szenen aus dem Leben vergangener Zeiten, Legenden und Geschichten.

Diese bemalten Fassaden stammen aus dem 18. Jahrhundert, als Bürger und wohlhabende Bauern sie mit religiösen Motiven schmücken ließen. Holzschnitzer haben sich niedergelassen, in den Restaurants ist Geselligkeit angesagt und ein ausgedehntes Wanderwegenetz lädt zum Durchatmen in dieser lieblichen und grünen Landschaft ein.

Das blaue Haus: Das Museum Oberammergau ist umgeben von einer ephemeren Struktur aus alten Bühnengewändern.

Wenn man durch die Straßen schlendert, trifft man auf Menschen in Tracht, Dirndel und Lederhose.

Überraschend ist die Zahl der Kinder, Frauen und Männer mit langen Haaren und bei letzteren, gepflegten Bärten. Die Erklärung: Es ist die Saison der Passionsspiele, die alle 10 Jahre stattfinden und an denen viele Dorfbewohner teilnehmen; sofern sie in Oberammergau geboren sind oder seit mindestens 20 Jahren dort leben.
Sepp, ein rüstiger Neunzigjähriger, ist zum 10. Mal dabei:  "Ich stand in den Armen meiner Mutter auf der Bühne", erklärt er. Es ist Teil unserer DNA, und oft spielent mehrere Generationen derselben Familie mit. Die älteste Statistin ist fast hundert Jahre alt! " Für viele Einwohner ist die Passion eine echte Leidenschaft. Außerdem bilden sich dort sogar Paare fürs Leben!

Wie seine Eltern nimmt auch der jetzige Bürgermeister Andreas Rödl teil. „Als Sänger, erklärt er.  Ich bin kein guter Schauspieler. Die Passionsspiele sind unser Erbe und liegt dem ganzen Dorf am Herzen.  Alle Schauspieler und Statisten, die Chorsänger, die Musiker, die Kostümdesigner, die Bühnenbildner, die Leute, die hinter den Kulissen arbeiten…. Alle sind Teil unserer Dorfgemeinschaft. Und alle erklären sich damit einverstanden, ihr Privat- und Berufsleben für mehrere Monate auf Eis zu legen, um die Kontinuität der Spiele und der 100 Vorstellungen, die bis Oktober andauern, zu gewährleisten.“

Schauspieler, Musiker, Sänger und … Kamele

Die Tradition reicht zurück auf das Jahr 1634, als die Pestepidemie die Bevölkerung dezimierte. Die Oberammergauer legten den Eid ab, regelmäßig die Passion Christi zu spielen, wenn die Pest ihr Dorf verschont. Seit diesem Tag stirbt niemand mehr – zumindest nicht an der Pest.

Mit Ausnahme seltener Unterbrechungen aufgrund politischer Ereignisse oder kürzlich der Corona Pandemie, finden die Spiele alle zehn Jahre statt. Für die Zuschauer aus der ganzen Welt wurde ein teilweise überdachtes Open-Air-Theater mit 4.000 Plätzen gebaut.

Mehrere Szenen aus dem Leben Jesu werden dargestellt, seine Ankunft in Jerusalem, die Kreuzigung, die Auferstehung.

Im Hintergrund erzählen einige feststehende Gemälde Szenen aus dem Alten Testament.

Die beeindruckende Leistung von Chor und Orchester (die Musik ist inspiriert von Werken des Komponisten Rochus Dedler, 1179-1822) unterstreichen das ergreifende Spiel der Schauspieler, die mit großer Leidenschaft von Intendant Christian Stückl inszeniert wurden. Christian Stückl, auch Intendant  des Volkstheaters in München, ist natürlich auch gebürtiger Oberammergauer. Er kennt die Worte jedes Dialogs, jedes Lieds. Unter seiner Regie ist die Show äußerst lebhaft und ergreifend. So sehr, dass auch Nichtdeutschsprachige von Emotionen erobert werden. Es gibt auch eine Broschüre mit Texten auf Französisch.

Ach ja, und auf der Bühne steht sogar ein ganzes Bestiarium: Ziegen, Tauben, Hühner, Esel, Pferde und … Kamele!

 

Jesus in unserer Zeit

Kriege, Exodus, Epidemien, Kampf zwischen Arm und Reich, Versöhnung… Die Geschichte der Bibel ist seltsam zeitgenössisch. Vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie, Klimakrise, Krieg in der Ukraine, Armut und Hunger sieht Christian Stückl „seinen“ Jesus als tatkräftigen Mann mit starker Stimme. Ab 1990 modernisierte der Regisseur die Passionsspiele grundlegend, gab den Frauen mehr Gewicht, beseitigte jeden christlichen Antijudaismus: Jesus war Jude, und seine Kreuzigung das Ergebnis von Konflikten innerhalb der jüdischen Gemeinde. Das American Jewish Committee (AJC) hat den Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele mit dem renommierten Isaiah Award for Exemplary Interreligious Leadership ausgezeichnet. Damit werden herausragende Leistungen im interreligiösen Bereich gewürdigt. Erstmals übernehmen auch zwei Einwohner muslimischer Herkunft eine Hauptrolle.

Am Abend der letzten Vorstellung am 2. Oktober, geht die Show nach dem Schauspiel weiter. Diesmal in den örtlichen Friseursalons, um die Schauspieler und Statisten zu rasieren! Nur die Römer und die Engel waren nicht verpflichtet, Bärte und lange Haare zu tragen ... Nur Väter und Großväter sehr kleiner Kinder dürfen in dieser Nacht ihre Bärte nicht schneiden lassen: Babys könnten traumatisiert werden, wenn sie ihren Vater und Grossvater auf einmal glatt rasiert sehen!

 Hier ein kleiner Vorgeschmack während einer Probe:

 

Abteien und Schlösser

Die kleine Stadt in ihrer alpinen Umgebung ist auch der perfekte Ausgangspunkt, um einige der Juwelen dieser Region nördlich der Alpen zu entdecken. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören natürlich die Schlösser Neuschwanstein und Linderhof von Ludwig II. von Bayern, die imposante Rokokoabtei Ettal oder die schöne Wieskirche.